Natur machen: Wissen, Praktiken und Technologien der Umweltgestaltung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Workshop
Interdisziplinärer Workshop am Historischen Seminar der Universität Siegen
Die 1950er Jahre gelten als Zäsur der Umweltgeschichte. Davon zeugen Schlagworte wie jene des „1950er Syndroms“ (Pfister), der „Großen Beschleunigung“ (McNeill/Engelke), aber auch des Anthropozäns, dessen Beginn bisweilen auf die Nachkriegszeit datiert wird. Die tiefgreifenden Umwälzungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse gingen indes einher mit einem weniger beachteten Wandel des Stellenwertes „der Natur“ innerhalb industrialisierter Gesellschaften. Auch wenn sich der Beginn dieser Entwicklung auf verschiedenen Feldern bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachen lässt, war Natur ab den 1950er Jahren flächendeckend nicht mehr etwas, von dem es sich zu emanzipieren galt, noch etwas zu Konservierendes. Vielmehr rückte das Herstellen von Natur in den Fokus – Natur wurde auf eine jeweils neue Weise problematisiert, in politische Rationalitäten integriert und erhielt spezifische Funktionen.
Exemplarisch dafür kann die Geschichte des Naturschutzes in beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet werden. In der Bundesrepublik stand der sogenannte „Glasglockennaturschutz“ in der Kritik, die planerisch-gestalterische Landespflege setzte sich als Modernisierungsangebot durch. Ganz ähnlich galt in der DDR der konservierende Naturschutz als Relikt bürgerlicher Naturästhetik und wurde in die Landschaftspflege – bald „sozialistische Landeskultur“ – integriert. Aus Naturschutzgebieten wurden „Freilandlaboratorien“, Wissenspraktiken wie jene der Vegetationskartierung ließen sich in ein anwendungsorientiertes Forschungsprogramm zur (Re-)Konstruktion von Ökosystemen umschreiben.
Die an diesem Prozess beteiligten Akteure begründeten die Notwendigkeit Natur herzustellen – ob großflächige Landschaften oder kleinteiligeres Stadtgrün – oftmals damit, dass sie etwa ökonomische, medizinische und ökologische Funktionen erfülle. Darunter fielen mit jeweiligen Konjunkturen solche der Erholung sowie gesundheitspolitische Aufgaben im Allgemeinen oder auch solche der Regulation von Umweltmedien sowie des Klimaschutzes. Lassen sich manche dieser Vorstellungen bis um die Jahrhundertwende zurückverfolgen, wurden sie nun verwissenschaftlicht in umfängliche Planungsprozesse übersetzt. Natur galt aus dieser Perspektive als Mittel gegen jene negativen Effekte, die mit der „Großen Beschleunigung“ verbunden wurden. Dafür bedurfte es jedoch nicht nur Natur-Wissen, sondern eine anhand dieses Wissens gestaltete Natur. Nicht selten war dieser Zugriff auf die äußere Natur des Menschen verknüpft mit Vorstellungen seiner inneren Natur. Etwa dann, wenn eine dem Menschen naturgemäße Umwelt gefordert wurde, da sie der gesellschaftlichen Regulierung diene. Naturpolitik und ‑gestaltung sind in diesem Sinne auch als Regierungs- und Sozialtechnologien zu analysieren.
Natur machen beschreibt dieses heterogene Ensemble. Im Zentrum stehen Wissensformationen, Praktiken und Technologien wie etwa jene der Renaturierung und ‑kultivierung, der Landschafts‑, Stadt- und Humanökologie, der Ingenieurbiologie und Landschaftsplanung, des Arten- und Biotop- sowie des Prozessschutzes. Deren Beginn fällt zwar bisweilen in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: Systematische Forschung, umfängliche Anwendung und Institutionalisierung erfuhren sie in der Regel jedoch erst ab den 1950er Jahren. Darin unterscheiden sie sich von Eingriffen in den Landschafts- und Naturhaushalt im Allgemeinen sowie von länger eingeübten Praktiken, etwa der Melioration. Es geht nicht um die „Eroberung der Natur“ (Blackbourn), sondern um ihre bewusste (Re-)Konstruktion in Form artifizieller Natur-Replika. Ein Beispiel dafür ist die seit den 1970er Jahren verstärkt auszumachende Praxis der Flussrenaturierung, die auf eine jahrhundertealte Praxis der Begradigung reagierte. Gerade darin zeigt sich indes die Widersprüchlichkeit des Natur Machens. Einerseits lassen sich diese neuen Naturen nur als techno-sozio-naturale Assemblagen denken, andererseits erfüllen sie ihre Funktion als Simulakrum darüber, dass sie ihre sozio- und technogenen Anteile verschleiern. Auch daher gingen Prozesse der Herstellung häufig einher mit ontologischen und ethischen Debatten darüber, was Natur ist – und was sie in der industrialisierten Gesellschaft sein soll.
Der Workshop will sich diesem Thema aus verschiedenen Perspektiven nähern und sucht nach Beiträgen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, die obige Gedanken aufnehmen. Sie können sowohl theoretisch als auch empirisch ausgerichtet sein und sich auf die Geschichte des Natur Machens im gesamten 20. Jahrhundert beziehen. Neben historischen Fallstudien etwa der Rekultivierungs- und Renaturierungspraxis – von devastierten Flächen des Tagebaus über Stadtbegrünung bis zur (Wieder-)Herstellung von Ökosystemen – und ihrer Rezeption interessieren auch Analysen obiger Disziplinen und Praktiken. Aus theoretischer Perspektive stellen sich etwa Fragen der Materialität und hybriden Ontologien innerhalb der Prozesse des Natur Machens sowie auch nach der Anwendbarkeit von in jüngerer Zeit diskutierten Konzepten wie jenem der Öko-Gouvernementalität.
Vorschläge für einen Vortrag (20 Minuten) im Umfang von ca. 300 Wörtern sowie ein kurzer akademischer Werdegang werden bis zum 31. Januar 2023 erbeten per E‑Mail an: martina.huttner@uni-siegen.de
Vorbehaltlich zur Verfügung stehender Mittel können Reise- und Übernachtungskosten übernommen werden.
Für Fragen stehen die Organisatoren des Workshops zur Verfügung:
Prof. Dr. Noyan Dinçkal, Europäische Wissens- und Kommunikationsgeschichte der Moderne, Universität Siegen (dinckal@geschichte.uni-siegen.de)
Dr. Philipp Kröger, Geschichte der Gegenwart, Universität Siegen (philipp.kroeger@uni-siegen.de)
Socialist Governmentality? Healthcare, technologies of the self, and subjectification in European state socialism, 1945–1990
Workshop
Workshop at the Institute for the History of Medicine and Ethics in Medicine – Charité Universitätsmedizin Berlin
The two-day workshop aims to discuss the question, whether and how Michel Foucault’s ideas on liberal (and capitalist) “governmentality” can be productively applied on contemporary or historical socialist societies. It intends to take a closer look at governmentality, not from the perspective of policy makers or the power apparatus, but by using the example of healthcare in post-1945 Socialist Europe.
Socialist Governmentality? Healthcare, technologies of the self, and subjectification in European state socialism, 1945–1990
After the collapse of the Cold War two-bloc system in 1989/90, historiography and social sciences tended to sharply contrast post-World War II socialist and non-socialist societies. Recently, the focus has shifted to a more comprehensive and nuanced perspective interested in differences as much as parallels, including intersections and convergences between the two systems. Some even ask, if the Iron Curtain might not be better described as a permeable Nylon Curtain. In this context, a more general question has emerged: whether and how Michel Foucault’s ideas on liberal (and capitalist) “governmentality”, first formulated in 1977/78, can be productively applied on contemporary or historical socialist societies. After all, at first glance the liberal and individualized technologies of the self stand in sharp contrast to the ideologically shaped and administratively mediated formation of a “socialist personality”.
It is hardly controversial that the Foucauldian concept of “biopolitics” – securing and enhancing “life” of the governed “population” – is a very useful tool for analyzing both socialist and non-socialist government policies when it comes to, for example, birth regulation and pronatalism, agricultural policies or preventive healthcare regimes. “Governmentality” as defined by Foucault, however, characterizes a kind of biopolitics which seems to be specifically connected to a way of live in neoliberal-democratic and capitalist societies. The concept focuses on “private” lifestyles (diet and physical activity, sex, emotions, etc.). The shaping of individual behavior and subjectivity through a “conduct of conduct” ensures that the individual’s striving for autonomy and their capacity for self-control, self-reliance, and reflexivity serve the (presumed) common good. Governmentality, then, describes how self-conduct simultaneously “governs” others by governing oneself in ways that are desirable for the polity and acceptable to the governed.
In the last decades, the concept of governmentality helped to understand how neoliberalism made citizens responsible for the former tasks of the postwar-welfare state and how the market redistributed those tasks to the individual (subject). From this theoretical standpoint, governmentality seems incompatible with socialist ideology, state control, physical repression, and the prerogative of the collective. In recent years, however, we learned that pursuing a bottom-up perspective can provide additional or even deeper insights into the complexities of socialist realities. This is the aim of the proposed workshop: To take a closer look at governmentality, not from the perspective of policy makers or the power apparatus, but by using the example of healthcare in post-1945 Socialist Europe.
We propose to explore concrete examples from everyday healthcare settings – in psychological counseling, clinical social work, and community medicine, in treating chronic diseases and in preventive healthcare, in school education and the workplace, in healthy leisure activities, and in shaping a happy family life. What mechanisms of dissemination, reception, and mediation of self-techniques can be found and analyzed? Were elements or patterns of governmentality transferred from the West to the East or do we also find “home-grown” inventions? Were socialist societies more “liberal” than they realised and wanted to be? If so, what does this mean for the way we look at governmentality in “Western” societies?
The workshop will be held in Berlin on September 13–14, 2023. We plan this to be a fairly small group of people to make the discussions as open and lively as possible. To facilitate a productive discussion, we invite papers from ongoing research that will be distributed to participants (and commentators) in advance. Expenses for travel and hotel will be covered. We welcome abstracts in English of no more than 300 words. Please send an abstract and a short CV by e‑mail (henriette.voelker@charite.de) by December 19, 2022.
The workshop is organized by Dr. Alexa Geisthövel and Laura Hottenrott (both ERC Leviathan) and Prof. Dr. Viola Balz (FOR “normal#verrückt”). We gratefully acknowledge the support of the European Research Council (ERC Grant 854503) and the German Research Foundation (DFG FOR 3031). Please do not hesitate to contact us if you have any questions.
Kontakt
alexandra.geisthoevel@charite.de
laura.hottenrott@charite.de
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volker.hess@charite.de