Die Arbeitsgemeinschaft Ethnologie und Medizin wurde als „AG Ethnomedizin“ (AgE) am 10.10.1970 in Hamburg als Verein von dem Ethnologen Joachim Sterly im Rahmen seiner seit 1969 bestehenden „Arbeitsstelle für Ethnomedizin“ (AfE) gegründet. 1969 wurde auch im Rahmen der damaligen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde in Göttingen die Arbeitsgruppe „AG Ethnomedizin, Ethnobotanik und Ethnozoologie“ gegründet, die bis 1973 bestand. Die Geschichte der Entstehung dieser „Ethnomedizin“, die den folgenden „ethnomedizinischen Diskurs“ im deutschen Sprachraum in den folgenden Jahrzehnten nachhaltig geprägt und kann in den ersten drei „Mitteilungen der Arbeitsstelle“ nachverfolgt werden.
In dieser Arbeitsstelle ist auch die Zeitschrift Ethnomedizin. Zeitschrift für interdisziplinäre Forschung entstanden. Das erste Herausgeberteam war der Gründer Joachim Sterly selbst (zu Sterly siehe Zeitschrift Ethnomedizin), dem sozialpsychiatrisch ausgerichteten Psychiater und Psychoanalytiker Gerhard Rudnitzki aus Heidelberg und dem Kinderarzt Werner Stöcklin aus Riehen bei Basel.
Die Arbeitsgemeinschaft erhielt ihr Akronym AGEM bei der 5. Mitgliederversammlung 1976 in Heidelberg, auf der auch die Satzung überarbeitet wurde.
Die Mitteilungen der AGEM (MAGEM) erschienen seit 1975 als schnelles Info-Medium in unterschiedlich hoher, teils bedarfsgesteuerter Auflage (bis 300 Ex. Auslage bei DGV-Tagungen zum Beispiel in der Phase der Neugestaltung der AGEM beim Übergang von Hamburg nach Heidelberg wurden sie ab Nr. 5 auch als Vorposten einer neuen Zeitschrift (ZAGEM) verstanden. 1983 wurden sie ab Nr. 15 in die regelmässig erscheinenden Curare integriert. Sie dokumentierten auch die eingesandten Neuzugänge an Schrifttum (Monographien, Artikelseparate und Zeitschriften) für die sich ab 1975 bildende Literatursammlung (LAGEM).
Hier kann der Beginn im Reprint der ersten Ausgabe verfolgt werden (Curare 35.2012.4: 291–296).
Die Dokumentation wird fortgesetzt.
• Die Arbeitsstelle für Ethnomedizin wurde am 25. August 1969 in Hamburg von Joachim Sterly (1926–2001) gegründet und war Keimzelle der Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin (AGEM, ursprüngliches Akronym bis 1976 AgE) und der Zeitschrift Ethnomedizin („Ethnomedizin. Zeitschrift für interdisziplinäre Forschung“). Diese wurde am 10. Oktober 1970 ebenfalls von ihm gegründet. Die Mitteilungen der Arbeitsstelle (ab 1969) wurden von Nr. 4 – 17 in die Ethnomedizin integriert. Die ersten drei Ausgaben 1969–1970) wurden geringfügig gekürzt in Curare 34(2014)4 wieder abgedruckt. 1971 erschien die Zeitschrift Ethnomedizin erstmalig, wobei die Arbeitsstelle bis zum Einstellen der Ethnomedizin mit Vol. VII, 1–4 (1981/2) die Herausgabe vor Ort besorgte.
In den ersten Jahren des Erscheinens war die Zeitschrift mit der AgE verbunden, später Organ des Arbeitskreises Ethnomedizin Hamburg, der sich ab ca. 1975 um Joachim Sterly, dem Gründer der Arbeitsstelle und der Zeitschrift Ethnomedizin neu gruppierte. Der Arbeitskreis, später „Arbeitskreis Ethnomedizin Hamburg – Köln“, wurde 1982 umstrukturiert und 1986 aufgelöst, mit ihm die Hamburger Arbeitsstelle (siehe Mitt. Ak. Ethnomed. No. 18, Juli 1986).
• Eine wichtige ethnomedizinische Tagung wurde als Symposium in diesem Kreis im Jahre 1980 organisiert und unter der Schirmherrschaft von Charles Lichtenthaeler (1915–1993), Professor für Medizingeschichte an der Uni Hamburg, durchgeführt, wo auch wieder Kontakte zur AGEM geknüpft (siehe Curare 3[1980]3: 133) und Mitarbeiter für die 1978 gegründete Zeitschrift Curare gewonnen werden.
Symposium „Ethnomedizin und Medizingeschichte“, 2.–4. Mai 1980 in Hamburg, ist komplett im VIII. und letzten Band der Reihe „Beiträge zur Ethnomedizin, Ethnobotanik und Ethnozoologie“ dokumentiert (BEEE VIII).
Der Inhalt ist in einem Reprint des Index der Zeitschrift Ethnomedizin in Curare 24(2001)225–256, hier S. 255–256 BEEE VIII, 1983 festgehalten.
Restbestände der Zeitschrift sind noch vorhanden; Anfrage über AGEM oder Ekkehard Schröder ee.schroeder@t‑online.de
[Text: Reprint aus MAGEM 22/1993, Curare 16(1993)3+4: 332–333, für diese Website aktualisiert und geringfügig überbearbeitet]
Die Zeitschrift Ethnomedizin. Dokumentation und Register 1971–1982
Nachruf auf Joachim Sterly (1926–2001) von Claus Deimel
Die Reihe „Curare-Sonderbände“ war ein weiteres Medium der AGEM neben der Zeitschrift Curare. Es handelt bei dieser Reihe um Bücher mit einem Herausgeberteam oder einzelnen Herausgeber.innen, die auch so zitiert werden müssen, um sie aufzufinden. Mehrheitlich wurden in den Curare-Sonderbänden die „Fachkonferenzen Ethnomedizin“ in zum Teil ausgewählter und zugleich erweiterter Form vertieft. Die ersten sieben Curare-Sonderbände sind auch bei Fachkonferenzen dokumentiert und im Verlag Vieweg Wiesbaden/Braunschweig erschienen.
Die ersten sechs Sonderbände sind seit 2016 im Reprint im Springerverlag neu erschienen. Einige Artikel sind in verschiedenen Heften der Zeitschrift Curare als Reprint erschienen.
Die Curare-Sonderbände 8 bis 16 sind im VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin erschienen (sehe auch Reihen). Die Inhalte können in der Website vom VWB eingesehen werden.
Die AGEM führt seit 1973 entsprechend ihrer Satzung regelmäßige Fachtagungen durch, die in den ersten Jahren zweijährig mit Fördermitteln durchgeführt wurden. Sie sollten alternierend zu den zweijährigen Fachkonferenzen der Gesellschaften für Volkskunde und Völkerkunde (dgv und DGV, damalige Bezeichnungen) laufen und waren streng interdisziplinär ausgerichtet. Sie liefen unter dem Label „Fachkonferenzen Ethnomedizin“. So war auch der Titel der Ersten in München. Das Dokument dazu ist der Reprint des Einführungsvortrags „Ethnomedizin als interdisziplinäres Arbeitsfeld“ von Joachim Sterly, dem Gründer der AGEM in Curare 33(2010) 3+4: 241–244.
Ein ausführlicher dokumentarischer Überblick zu den ersten 10 Fachkonferenzen erschien in Curare 16(1993)3+4 und wird als restaurierte PDF hergestellt. Eine Kurzfassung der ersten und der letzten Seite ist hier aus einem späteren Info leicht überarbeitet abgedruckt.
Definitionen zum Begriff „Ethnomedizin“
Im deutschen Sprachraum 1969 – 2000
Der Begriff Ethnomedizin geht auf eine Prägung des Wiener Ethnologen und Arztes Erich Drobec 1953 zurück und ist am deutlichsten in seinem Aufsatz „Zur Geschichte der Ethnomedizin” dargestellt, (Anthropos 50.1955: 950–957, Reprint in Curare 28.2005,2: 3–10).
1969
Ethnomedizin befasst sich mit jeder Heilkunde gleich welcher ethnischen Herkunft und Kulturzugehörigkeit, die nicht wissenschaftlich im Sinne der akademischen Medizin ist. Sie bemüht sich ferner um eine Erforschung der lebensweltlichen Voraussetzungen von Kranksein und Heilung, sofern sie von der naturwissenschaftlichen Medizin nicht geleistet werden kann. (Arbeitsgruppe Ethnomedizin, Ethnobotanik, Ethnozoologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde e. V. am 9.10.1969)
1970
Der Terminus Ethnomedizin bezeichnet nach Auffassung der Initiatoren einmal die Volksmedizin, d.i. die außerhalb der wissenschaftlichen Methode und Tradition überlieferte Krankheits- und Heilkunde gleich welcher ethnischen Herkunft, zum anderen bezieht er sich auf das geschichts- und gesellschaftswissenschaftliche Studium sowohl der Volksmedizin als auch der Gegebenheiten unserer Lebenswelt, mit denen die wissenschaftliche Medizin teilnehmend verbunden ist, ohne sie ihrer Bedeutung gemäß berücksichtigen zu können. Es ist also nicht nur an die Medizin alter Hochkulturen und die im Verschwinden begriffene Institution des Medizinmannes und Schamanen zu denken, die insbesondere für die Medizin‑, Religions- und Kulturhistorie von Interesse ist, sondern ebenso an das gegenwärtig tradierte ethnomedizinische Wissen überhaupt. Ferner wären nicht nur das soziale Verhalten von Patienten in Ländern der Dritten Welt zu untersuchen, das dem dort tätigen europäischen Arzt manche Rätsel aufgibt, sondern ebenso bestimmte Befindens- und Verhaltensweisen in unserer eigenen Kultur. Die Ethnomedizin setzt sich ausdrücklich zum Ziel, die Forschungsarbeit der Medizinhistorie und Medizinsoziologie, aber auch der Geomedizin, Arbeitsmedizin und Sozialmedizin sowie der Sozialpsychiatrie zu ergänzen und zu unterstützen. Als interdisziplinärer Arbeitsbereich kann sie keine wissenschaftliche Disziplin sui generis bilden. Nicht zuletzt hat das in der Bundesrepublik bisher stark vernachlässigte Studium der Humanökologie von der Ethnomedizin neue Impulse zu erwarten.
(Aus Sterly, Denkschrift an die Stiftung Volkswagenwerk 21.8.1970)
1971
Ethnomedizin oder Ethnoiatrie ist keine Disziplin der Schulmedizin, ja nicht einmal eine eigene wissenschaftliche Disziplin. Sie wäre anzusprechen als interdisziplinärer Bereich zwischen Ethnografie oder Ethnologie und Medizin. Streng genommen befasst sie sich mit der Krankheits- und Heilkunde, die nicht wissenschaftlich im Sinne der akademischen Medizin ist, gleich welcher ethnischen Herkunft sie sein mag.
(Ethnomedizin. Zeitschrift für Interdisziplinäre Forschung Bd. I (1971)1: 8)
1973
Direktiven für eine anthropologische Krankheitslehre. Die Anthropologie hat keine Krankheitslehre ausgebildet, vergleichbar derjenigen der Medizin, zumindest wird Krankheit nicht als pathologische Veränderung verstanden. Die von der Zellularpathologie ausgehende naturwissenschaftliche Krankheitslehre der modernen Schulmedizin deckt die Situation des Kranken in der menschlichen Lebenswelt nur unzureichend auf und ist daher für die Anthropologie nicht verbindlich. Eine anthropologische Krankheitslehre hätte sich mit der Lebenssituation des Kranken zu befassen, ohne Leben im Sinne der Biologie ausdrücklich als „Lebensprozess“ zu definieren. Anthropologisch verstanden ist Leben irdisches Dasein, das zwischen Geburt und Tod befristet ist. Geburt und Tod werden als Grenzsituationen begriffen. Kranksein und Sterben müssen gehören ebenso zum Dasein wie Gesundsein. Die innerhalb der Medizin berechtigte Abgrenzung der Gesundheit gegen die Krankheit charakterisiert das Leben als solches nicht. Die bekannte Definition der Weltgesundheitsorganisation: „Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ genügt dem Anthropologen nicht. Ein Mensch kann sich körperlich, seelisch und sozial unwohl befinden, ohne krank sein zu müssen. Der Anthropologie geht es eigentlich nicht um die Krankheiten, sondern um das Kranksein und die Krankheitssituationen. Im Unterschied zu den Krankheiten in der Medizin wird das Kranksein in der Anthropologie nicht ausschließlich negativ bewertet. Eine Krankheitssituation kann dem Menschen die Möglichkeit geben, wieder zu sich zu kommen, sich zu entfalten und reifer zu werden. So gehen die Entwicklungsstufen des gesunden Kindes vielfach mit Kinderkrankheiten einher, die ihm Immunität und Widerstandskraft geben. Anders als die Weltgesundheitsorganisation würde ich Gesundheit als Möglichkeit oder besser Freiheit verstehen, sich mit Krankheit auseinanderzusetzen und sie zu überwinden. (Joachim Sterly: Referat Juni 1973 Hamburg für Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen)
„Ethnomedizin. Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinärer Zusammenarbeit“, Texte 1969 – 1973, vorgelegt von Joachim Sterly auf der 1. Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin, München 19. – 20. Oktober 1973 (PDF wird nachgetragen).
Ethnomedizin (gr. ethnos Volk): als anthropolog. Disziplin beschreibt E. in Anlehnung an ethnolog. Methoden i.e.S. Konzepte von Gesundheit, Krankheit u. Heilung in Ethnien u. Populationen jeglicher Provenienz. I.w.S. vergleicht E. verschiedene Heilweisen und untersucht deren Interaktion durch ihre Träger in Kontaktsituationen. Eine bes. Aufgabe bildet neben dem sammelnden Beschreiben der Heilmittel, ‑techniken u. ‑konzepte heute vor allem im Rahmen moderner Gesundheitsplanung für die E. die Konfliktanalyse in med. Transfersituationen u. die wissenschaftl. fundierte Neubewertung der Heilkunden u. Volksmedizinen, die nicht mit den Begriffen der akademischen naturwissenschaftl. Schulmedizin erfasst werden können. (Pschyrembel- Klinisches Wörterbuch, 253. Auflage, Berlin 1977; hier nach der 255. Auflage, S. 489, nahezu unverändert noch 259. Aufl. 2002.)
(Diese Definition von Ekkehard Schröder ging in die folgenden Prospekte der AGEM ein und wurde von Dorothea Sich erweitert, hier kursiv).
Als interdisziplinäres Arbeitsfeld beschreibt Ethnomedizin in Anlehnung an ethnologische Methoden im engeren Sinne Konzepte von Gesundheit, Krankheit und Heilung in Ethnien und Populationen jeglicher Provenienz, im weiteren Sinn vergleicht Ethnomedizin verschiedene Heilweisen. Als anthropologische Disziplin geht sie vom Paradigma der Medizin als kulturellem System aus. Ethnomedizin sieht Möglichkeiten und Berechtigung, durch ethnomedizinische Forschung gewonnene Erkenntnisse für unsere eigene Medizintheorie nutzbar zu machen. Eine besondere Aufgabe bildet neben dem Beschreiben der Heilmittel, Heiltechniken und ‑konzepte heute vor allem im Rahmen moderner Gesundheitsplanung für die Ethnomedizin, die Konfliktanalyse in medizinischen Transfersituationen und die wissenschaftlich fundierte Neubewertung der Heilkunden und Volksmedizinen, die nicht mit den Begriffen der akademischen naturwissenschaftlichen Schulmedizin erfasst werden können. (hier nach Editorial in Curare 5[1982]1: 3)
1979
Seidler, Eduard 1979. Wörterbuch medizinischer Grundbegriffe. Eine Einführung in die Heilkunde in 86 Artikeln. Freiburg: Herder, hier: Beitrag Ethnomedizin, bearbeitet von Ekkehard Schröder, Wulf Schiefenhövel, Gerhard Rudnitzki, S. 84 – 90 (PDF wird nachgetragen).
1981
Ethnomedizin w [ gr.-lat.], Teilgebiet der Ethnologie, das alle mit dem Phänomen Krankheit verbundenen Aspekte wie Krankheitsursachen, therapeut. Maßnahmen, Heilpflanzen, anatom. Kenntnisse, Verhältnis Kranker-Gesellschaft insbesondere in Kulturen der Naturvölker u. bei Folk-Gesellschaften untersucht. Manche dieser auf Erfahrung beruhenden, überlieferten med. Kenntnisse über die Wirkung bestimmter Therapiemaßnahmen u. Arzneimittel haben Eingang in die moderne europ.-am. Med. gefunden, z. B. Akupunktur. (Herder-Lexikon Ethnologie, Freiburg: Herder 1981, S. 44)
1984
„Die Ethnomedizin. Definition und Abgrenzung eines interdisziplinären Konzeptes“, Artikel von Armin Prinz. In Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (MAGW) 114: 37–50, Reprint in Curare 15(1992)3: 147–160 (PDF wird nachgetragen).
1985
„Medizinanthropologie, eine Wissenschaft konstituiert sich“, Artikel von Joachim Sterly. In Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (MAGW) 115: 53–64, Reprint in Curare 15(1992)3: 165–176 (PDF wird nachgetragen).
1985
Ramaswamy, Mohan Krischke, Ethnomedizin. Kap 4.2.2., in ders.: Ethnologie für Anfänger. Eine Einführung aus entwicklungspolitischer Sicht. Opladen: Westdeutscher Verlag: 184–192 (PDF wird nachgetragen).
1987
Streck, Bernhard (Hg) 1987. Wörterbuch der Ethnologie. Köln: Dumont.
In 75 thematischen Essays wird das Gebiet der Ethnologie vorgestellt, wobei die Ethnologie als theoretische Disziplin dargestellt wird, in der Modelle für die Darstellung fremder Kulturerscheinungen entworfen und erprobt werden. Der Bereich der Ethnomedizin ist unter anderem in den Beiträgen Krankheit (Th. Hauschild), Nahrung (A. Nippa), Ekstase(B. Streck), Magie (B. Streck) u. a. dargestellt.
1988
Ethnomedizin, ein Teilgebiet der Ethnologie. Sie untersucht unter Zuhilfenahme von Methoden und Ergebnissen anderer v.a. der medizinischen Wissenschaften die Vorstellungen und Aktivitäten des Menschen innerhalb seiner Umwelt, die mit seinen Konzeptionen von Gesundheit und Krankheit zusammenhängen. Sie macht keinen wertenden Unterschied zwischen den einzelnen Heilkunden, insbesondere nicht in Hinblick auf deren Effizienz im naturwissenschaftl. Sinn, sondern betrachtet alle als kulturgebundene, organisch gewachsene Systeme, mit denen in einer Gesellschaft die Probleme in Bezug auf Gesundheit, Krankheit, Heilung und Krankheitsverhütung adäquat gelöst werden sollen. Die E. kann regional-ethnographisch oder allgemein-vergleichend ausgerichtet sein. Innerhalb der anthropolog. Wissenschaft wird sie der Medizinanthropologie zugeordnet. Unter der für die E. ausdrücklich geforderten interdisziplinären Arbeitsweise verstehen wir keine Summation von Einzelergebnissen der beteiligten Wissenschaften, sondern eine Integration zu einem ethnologischen Ergebnis. (Armin Prinz)
E. Drobec: Zur Geschichte der E., in: Anthropos, 50 (1955); E. Ackerknecht: Medicine and Ethnology (1971); J. Sterly: Zur Wissenschaftstheorie der E., in: Anthropos, 69 (1974); T. Hauschild: Zur Ideengeschichte der E., in: Ethnomedizin, IV, 3/4 (1976/77); E. Schröder: Ethnomedicine and Medical Anthropology, in: Reviews in Anthropology, 5, No. 4 (1978); A. Prinz: Die E. – Definition und Abgrenzung eines interdisziplinären Konzeptes, in: Mitt. d. Anthropol. Ges. in Wien (1984); B. Pfleiderer u. w. Bichmann: Krankheit u. Kultur. Eine Einführung in die E. (1985). (Neues Wörterbuch der Völkerkunde, hrsg. von Walter Hirschberg, Berlin: Reimer 1988, S. 133)
Medizinanthropologie, eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die sich in einer Zusammenarbeit von Ethnologie, Medizin und biologischen Wissenschaften, mit Fragen der Humanökologie und Epidemiologie, der > Ethnomedizin sowie dem Problem Medizin und Kulturwandel beschäftigt. Sie lehnt sich an die „Medical Anthropology“ der angelsächsischen Länder an, ohne sich jedoch theoretisch und methodisch vollkommen mit ihr zu identifizieren. Insbesondere lehnt sie deren neoevolutionistischen Ansatz entschieden ab. (Armin Prinz)
R.W. Lieban: Medical Anthropology, in: Handbook of Social and Cultural Anthropology, hg. V. J. J. Honigmann (Chicago 1973); J. Sterly: Versuch einer systemat. Ordnung der Ethnomedizin, in: Ethnomedizin IV, 3/4 (1976/77); G. Forster u. B. Anderson: Medical Anthropology (New York 1978); A. Prinz: Traditionelle Medizin und Tropenarzt, in: Mitt. d. Österreich. Ges. f. Tropenmedizin u. Parasitologie, 5 (1983); ders.: Die Ethnomedizin – Definition und Abgrenzung eines interdiszipinären Konzepts, in: Mitt. d. Anthropol. Ges. in Wien (1984). (Neues Wörterbuch der Völkerkunde, hrsg. von Walter Hirschberg, Berlin: Reimer 1988, S. 303)
1989
Ethnomedizin als Abschnitt in Kultur und Medizin, bearbeitet von Winfried Effelsberg und Franz Joseph Illhardt, im Lexikon Medizin Ethik Recht, hrsg. v. a. Eser u. a. 1989. Freiburg: Herder: Spalte 659–666, Reprint in curare 15,3 (1992) 161–164 (PDF wird nachgetragen).
1993
Handbuch der Ethnologie: Festschrift für Ulla Johansen, hrsg. von Thomas Schweizer, Margarete Schweizer und Waltraud Kokott. Berlin: Reimer. Kap. Medizinanthropologie: Herkunft, Aufgaben und Ziele (Beatrix Pleiderer), S. 345 – 374.
1994
Ethnomedizin als Stichwort im Anhang von Sich et al.:
Dieser Begriff wird vielfach im deutschsprachigen Raum als Entsprechung zur angelsächsischen Medical Anthropologyangewendet. Als Synonyme, die auch Hinweise auf die fachliche Einbindung geben können, gelten die Termine Medizinethnologie und Kulturvergleichende Medizinische Anthropologie [Anhang im Lehrbuch, siehe S.178].
Im Anhang werden weiter die Begriffe Ethnomedicine (Subdisziplin der Medical Anthropology) genannt, sowie Kulturvergleichende Medizinische Anthropologie als interdisziplinäres Fachgebiet, das sozial‑, kultur- und naturwissenschaftliches Wissen verbindet, um systematisch den Zusammenhang von Medizin und Kultur zu erforschen. Der Begriff wird als Entsprechung der Medical Anthropology im angelsächsischen Sprachraum betrachtet [Anhang, S. 182]. Vergleiche Dorothea Sich, Hans Jochen Diesfeld, Angelika Deigner, Monika Habermann (Hg): Medizin und Kultur. Eine Propädeutik für Studierende der Medizin und Ethnologie mit 4 Seminaren in Kulturvergleichender Medizinischer Anthropologie (KMA). (Medizin in Entwicklungsländern 34). Frankfurt: Peter Lang.
1999a
Ethnomedizin wird unterschiedlichen Auffassungen gemäß entweder als Teilgebiet von Medizin oder > Anthropologie (Medizinanthropologie) verstanden, als Subdisziplin der Ethnologie betrachtet (und wäre dann treffender als Medizinethnologie zu bezeichnen), bzw. als „Komplex von Inhalten und Phänomenen aus dem Überschneidungsfeld von Ethnologie und Medizin“ (Walter). Zentral ist die Erforschung je nach > Kultur verschiedener Erklärungsmodelle von „Gesundheit“ und „Erkrankung“ (d. h. von „Krankheit“ und „Kranksein“), von kulturspezifischen Diagnosetechniken, Therapien bzw. Indikationen und Prophylaxen, der Interaktion zw. > Heiler, Patient und sozialer Umwelt sowie von Erkenntnissen und Praktiken im Umgang mit > Geburt und > Tod, aber auch von durch Konfrontation traditioneller und „westlicher“ Medizinsysteme hervorgerufenen Verwerfungen und Kontakterscheinungen. Insofern schließt E. Aspekte von > Ethnopsychiatrie, > Ethnobotanik und > Ethnopharmakologie mit ein. Sie bedient sich ferner medizinsoziologischer wie demographischer Erhebungstechniken und Fragestellungen. – Um fremde Medizinsysteme adäquat interpretieren, d. h. als Ausdruck von kulturell gebetteten Bedeutungsinhalten erfassen zu können, hat sich die E. heute weitgehend von herkömmlich-naturwiss. Merkmalsbestimmungen und Taxonomien gelöst und oft angenähert an die Methoden der > Kognitiven Ethnologie oder mit Mitteln der > dichten Beschreibung operierend, angemessene Begriffe, Kategorien und Kriterien entwickelt. Neben Beschreibung, Vergleich und Deutung kulturgebundener Medizinsysteme tritt zunehmend die Frage nach praktischer Anwendung („alternative“ Medizin, > Entwicklungsprojekte, pharmazeutische Forschung usw.). (Wolfgang Müller)
V. Turner: The Drums of Affliction (Oxford 1968); E. H. Ackerknecht: Medicine and Ethnology (Baltimore 1971); Culture, Disease, and Healing, hg. V. D. Landy (New York u. London 1977); E Schröder, W. Schiefenhövel u. G. Rudnitzki: Ethnomedizin, in: Wörterbuch medizinischer Grundbegriffe, hg. v. E. Seidler (1979); The Relevance of Social Science for Medicine, hg. v. L. Eisenberg u. a. Kleinman (Dordrecht 1981); P. Hinderling: Kranksein in “primitiven” und traditionalen Kulturen (1981); A. Walter: Ethnomédicine et anthropologie médicale, in: CSH, 18/4 (1983); B. u. E. A. Berlin: Anthropological Issues in Medical Anthropology, in: Ciba Foundation Symposium 185 (1994); B. Pfleiderer, K. Greifeld u. w. Bichmann: Ritual und Heilung, Einführung in die Ethnomedizin (1995).
(Wörterbuch der Völkerkunde, begr. von Walter Hirschberg, grundlegend überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Berlin: Reimer 1999, S. 107)
Medizinethnologie > Ethnomedizin (ebd., S. 250)
1999b
Ethnomedizin (Ethnomedizin nach Pschyrembel Naturheilkunde 1996 und 1999, hier nach letzterer Version geringfügig modifiziert). Ethnomedizin (gr. Ethnos = Volk; lat. ars medicina, ärztliche Kunst) f: Begriff, der wörtlich der im 19. Jahrhundert aufgekommenen Bezeichnung Volksmedizin, der im Volk seit Alters her überlieferten Heilkunde entspricht; entstand aus dem Interesse von Ärzten an der Medizin kolonisierter Völker (die als primitive Medizin bezeichnet wurde) u. der einheimischen Volksmedizin. Die linear-evolutionistische Auffassung der Entwicklung von einer primitiven Medizin zur sog. modernen Medizin geriet in den 50er-Jahren in die Kritik u. wurde durch die Untersuchung von Medizinsystemen in den 70er-Jahren abgelöst (vgl. >Medizinsystem). Der Begriff E. hat in der Bundesrepublik Deutschland weite Verbreitung gefunden, obwohl Herkunft u. Standort keineswegs endgültig geklärt sind. Während in den USA u. England die medical anthropology u. in Frankreich die anthropologie médicale eine in der universitären Forschung u. Lehre vertretene sozialwissenschaftliche Fachrichtung ist, konnte die Ethnomedizin in der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht als eigenständiges Fach allgemeine Anerkennung finden. Aus dem Blickwinkel der Medizin heraus und in enger inhaltlicher Anlehnung an die Konzepte der US-amerikanischen medical anthropology wurde der Terminus „kulturvergleichende medizinische Anthropologie“ (Abkürzung KMA) geprägt. Von ethnologischer Seite aus wird die Bezeichnung Medizinethnologie favorisiert, die gleichzeitig die inhaltliche u. methodische Bestimmung durch die Ethnologie als Sozialwissenschaft u. die Notwendigkeit der Kombination verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven betont. Daneben findet sich auch der Begriff Medizinanthropologie oder medizinische Anthropologie. So bleibt Ethnomedizin in der Bundesrepublik Deutschland ein interdisziplinäres Arbeitsfeld, das von unterschiedlichen Disziplinen aus definiert und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen betrieben wird. Inhaltlich geht es in der E. nicht mehr nur um alle „Formen der Heilkunde außerhalb der akademischen Medizin“ (Hauschild 1976); in den letzten Jahren wird auch die akademische Medizin selbst immer mehr zum Untersuchungsgegenstand der E. (s. Syndrom, kulturgebundenes). Damit hat E. sich über die Untersuchung des Umgangs mit Gesundheit u. Krankheit in der anderen, fremden Kultur hinaus entwickelt. Die Grundlage dafür ist ihre methodische Verankerung in den Kulturwissenschaften. Heute untersucht die E. alle Medizinsysteme in ihren biologischen u. kulturellen Dimensionen. Durch die Unterscheidung von Krankheit* u. Kranksein* stellt sie das kulturell Spezifische einer Erkrankung heraus: Die psychosoziale Erfahrung u. Bedeutung der wahrgenommenen Erkrankung ist Ausdruck der jeweils spezifischen Wirklichkeit des Menschen. So entstehen Konzeptionen von Gesundheit u. Erkrankung (s. Erklärungsmodell), welche die Vorstellungen u. Aktivitäten des Menschen leiten u. welche innerhalb eines gewachsenen Medizinsystems sinnvoll sind. Daher zielt E. nicht auf Wertung einzelner Medizinsysteme, v. a. nicht im Hinblick auf die Effizienz eines naturwissenschaftlich-technischen Ansatzes. Heilung* ist eine Funktion des Medizinsystems als Ganzem, Coping* bezeichnet die Fähigkeit des Einzelnen, sein Erkrankungsproblem bewältigen zu können. Auf dieser Basis kritisiert E., insbesondere die kulturvergleichende medizinische Anthropologie, eine kulturblinde Gesundheitserziehung, speziell in Zusammenhang mit medizinischen Interventionen in den sog. Entwicklungsländern, wo Medizintransfer* zum Zusammentreffen von Medizinsystemen auf verschiedenen Ebenen führt. (Anmerkung der Redaktion: * bezieht sich auf Verweisstichworte in dem genannten Pschyrembel). (Thomas Lux).
Diese Übersicht ist entsprechend des Gebrauchs des Begriffs „Ethnomedizin“ bis 2000 zusammengestellt. Sie erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Hinweise erwünscht. Text: Ekkehard Schröder www.agem-ethnomedizin.de Stand 01.10.2011.
Eine überarbeitete und ergänzte Version ist geplant.
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Jean Benoist, *24. November 1929
Jean Benoist, emeritierter Professor an der Universität Paul Cézanne zu Aix/Marseille, ist während der 16. Fachkonferenz Ethnomedizin „30 Jahre Fachkonferenzen Ethnomedizin der AGEM 1973–2003” 2003 in Heidelberg zum Ehrenmitglied der Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin ernannt worden. Es entstand über ihn 1993 zu Kooperation mit der Gesellschaft A.M.A.D.E.S. („Anthropologie médicale appliquée au développement et à la santé” mit dem gleichnamigen Bulletin) in Marseille und Aix. Professor Benoist, „Vollblutmediziner“ und Ethnologe, hat schon früh in Frankreich der „Ethnomédecine” wesentliche Impulse durch die Konturierung und Profilierung einer „Anthropologie Médicale Appliquée” verliehen. In seinem damaligen „Laboratoire d ’écologie humaine” in Aix-en-Provence hat sich der Kern einer für die gesamte Frankophonie wichtigen Diskursgemeinschaft für den Bereich „Medizinanthropologie” herausgebildet, die sich durch zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen profiliert hat (vgl. auch die Buchreihe von „Amades”). Er hat davor lange in Montréal, Canada, gewirkt und u. a. in der Karibik, in Afrika und auf der Insel Réunion geforscht. Schon früh setzte er sich für eine intensive Erforschung der soziokulturellen Umstände der HIV/Aids-Epidemie ein. Als inspirierender Lehrer hat er viele junge Ethnologinnen und Ethnologen und Medizinerinnen und Mediziner in Doktorarbeiten und bei der Durchführung ihrer Feldforschungen als Mentor begleitet.
Der abgebildete Bucheinband mit dem Portrait von Jean Benoist trägt das Erscheinungsjahr 2000. Seine Publikationen können hier eingesehen werden: http://classiques.uqac.ca/contemporains/benoist_jean/benoist_jean.html
Hans Jochen Diesfeld, *18. April 1932
Hans-Jochen Diesfeld, Prof. em. Dr. med., Internist und Tropenmediziner, hat der deutschen medizinischen Entwicklungszusammenarbeit wesentliche Impulse gegeben. Er war nach zweijährigen Auslandserfahrungen als Internist in Addis Abeba und einer folgenden Postgraduierten-Ausbildung in Public Health in London ab 1967 Mitarbeiter (Habilitation 1969) und später ab 1975 bis 1997 Direktor des Instituts für Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen der Universität Heidelberg (ITHÖG), heute IPH (Inst Public Health).
Im interdisziplinären Geiste des 1962 gegründeten Südasieninstituts der Uni entstand unter seiner Federführung der Kurs „Medizin in Entwicklungsländern” 1974 in Heidelberg, der das tropenärztliche Kurrikulum reformierte und die ökonomischen und sozio-kulturellen Aspekte in der medizinischen Entwicklungszusammenarbeit erstmalig substanziell in die postgraduierte zielbezogene Fortbildung für ausreisende Ärzte einbezog. Auf der 16. Fachkonferenz Ethnomedizin in Heidelberg 2003 wurde er zum Ehrenmitglied ernannt. Seit 1998 wohnt er mit seiner Frau Ingeborg, der langjährigen Geschäftsführerin der AGEM in den 1980er-Jahren (1981–1988), wieder in Starnberg, wo beide auch aufwuchsen.
Das Foto stammt aus „Querbezüge und Bedeutung der Ethnomedizin in einem holistischen Gesundheitsverständnis. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Jochen Diesfeld”, Curare 15(1992)1+2 inklusive einer kompletten Publikationsliste bis 1992. Er ist unter anderem Herausgeber der Reihe „Medizin in Entwicklungsländern” gewesen (Bd. 1(1979) bis 50 (2004), vlg. Peter Lang).
Sjaak van der Geest, * 20. Juni 1943
In the annual assembly of AGEM on November 15, 2013, at St. Augustin during the 26th ‘Fachkonferenz Ethnomedizin’, three members of AGEM proposed to elect Prof. Sjaak van der Geest, anthropologist and Professor emeritus at the University of Amsterdam, to be honorary member of AGEM. Ekkehard Schröder pointed out the long contacts which started already, when the first books in „ethnomedicine” – as medical anthropology was called in the earlier days – were produced in the late 1970th here and in Holland* and elsewhere. He added the special commitment of Prof. van der Geest in creating the fruitful discourse on “pharmaceutical anthropology” of the last twenty years and remembered Sjaak’s reports “Beyond the Anglophone World” in Soc Sci Med in the 1990th as well. Katarina Greifeld remembered him as the founder of the journal “Medische Antropologie” (1989–2012) and his initiation of the series of European conferences called MAAH, Medical Anthropology at Home. Wolfgang Bichmann at least mentioned his engagements and merits in anthropological health system researches. He lives near Amsterdam on a polder in Oud Ade. The photo shows him as author in Curare. His personal website shows his complete bibliography
www.sjaakvandergeest.nl
coming soon
Dieser Punkt befindet sich im Aufbau. Er wird von Ekkehard Schröder verantwortet und die Geschichte des Vereins dokumentieren.
Kontakt:
ee.schroeder@t‑online.de