Veranstaltung

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Das Geschlecht der Medizin. Individualität in medizinischen Konzepten und Praktiken des 19. und 20. Jahrhunderts

Datum
02. Sep­tem­ber – 04. Sep­tem­ber 2024 

Tagung im Alfried Krupp Kol­leg in Greifswald 


„Das Geschlecht der Medi­zin. Indi­vid­u­al­ität in medi­zinis­chen Konzepten und Prak­tiken des 19. und 20. Jahrhunderts”
2. bis 4. Sep­tem­ber 2024
Alfried Krupp Kol­leg Greifswald
Ein­sende­schluss für Abstracts 1. März 2024

Organ­i­sa­tion: Dr. Annal­isa Mar­tin, Prof. Dr. Annelie Rams­brock, Naima Tiné, M.A. (Lehrstuhl für All­ge­meine Geschichte der Neuesten Zeit, Uni­ver­sität Greifswald)

Die Geschichte der Medi­zin erlebt seit den 1980er Jahren eine Neuori­en­tierung: Wurde sie lange Zeit als his­toris­tis­che Erfol­gs­geschichte geschrieben, die sich aus ein­er Aneinan­der­rei­hung divers­er Ent­deck­un­gen durch (meist männliche) Ärzte speiste, find­et seit einiger Zeit eine kri­tis­che Auseinan­der­set­zung mit medi­zinis­chen Prak­tiken statt. Aktuelle Stu­di­en bele­gen, dass Diag­nos­tik, Behand­lung und Risikovorher­sage bei ein­er Vielzahl von Erkrankun­gen bedeut­same Geschlech­ter­dif­feren­zen zeigen. Dabei meint Geschlecht sowohl das biol­o­gis­che (sex) als auch das soziale (gen­der) Geschlecht und schließt ein Bewusst­sein für vielfältige geschlechtliche Iden­titäten und ihre lebensweltliche Rel­e­vanz mit ein, inklu­sive queere, trans und nicht­binäre Per­so­n­en. Zugle­ich ist die medi­zinis­che Forschung noch vielfach auf den männlichen Normkör­p­er zugeschnit­ten, berück­sichtigt also Geschlechteraspek­te sowie andere Diver­sitätsmerk­male nicht oder nur am Rande. Schließlich spie­len medi­zinis­che Gutacht­en nach wie vor eine bedeut­same Rolle beim Kampf um Anerken­nung von Tran­si­d­en­titäten, was zeigt: Geschlecht und Medi­zin sind aufs eng­ste miteinan­der ver­woben und ste­hen in einem rezipro­ken Ver­hält­nis zueinan­der: Medi­zin ist in vielfach­er Weise vergeschlechtlicht und umgekehrt find­et die Vergeschlechtlichung von Patient:innen durch medi­zinis­che Prak­tiken und Konzepte statt.

Die Tagung wählt dieses Ver­hält­nis als Flucht­punkt. Sie will die gesellschaftliche Dimen­sion von medi­zinis­chem Denken und Han­deln seit dem 19. Jahrhun­dert aus­loten und dementsprechend das Ver­hält­nis von Medi­zin und Geschlecht his­torisieren. Der Kör­p­er war stets ein umkämpftes Feld, sein sta­tus quo wed­er selb­stver­ständlich noch notwendig. Beson­ders für das 19. Jahrhun­dert gilt deshalb, dass ver­schiedene medi­zinis­che Konzepte und Prak­tiken par­al­lel zueinan­der existierten. Ein­er­seits machte die Zeit-Raum-Kom­pres­sion, d.h. die Verkürzung von Trans­port- und Kom­mu­nika­tion­swe­gen den glob­alen Trans­fer von Wis­sen über nationale, kul­turelle und sprach­liche Gren­zen hin­weg möglich und führte zur Ver­schmelzung, Aneig­nung und Neuord­nung von Wis­sen um Kör­p­er und Geschlecht. Ander­er­seits entwick­el­ten ver­schiedene poli­tis­che Strö­mungen unter­schiedliche Anforderun­gen an (geschlechtsspez­i­fis­che) Medi­zin. In Debat­ten der sozial­is­tis­chen Bewe­gung rund um Aus­beu­tung, Arbeits­be­din­gun­gen und Lohn rück­te der Kör­p­er und das Ide­al der kör­per­lichen Unversehrtheit in den Mit­telpunkt. Darüber hin­aus wurde die hege­mo­ni­ale Medi­zin sowohl in den Kolonien als auch in den europäis­chen Armen­vierteln gewalt­sam gegen den unter­drück­ten Kör­p­er durchge­set­zt und avancierte zu einem gängi­gen Herrschaftsin­stru­ment, das biopoli­tis­che Maß­nah­men natur­wis­senschaftlich legit­imierte. Damit wur­den geschlechtsspez­i­fis­che medi­zinis­che Hand­lungsparamter auch zum Gegen­stand bürg­er­lich­er, nation­al­is­tis­ch­er und impe­ri­al­is­tis­ch­er Poli­tik. Auch hier führte das dichotome Zwei-Geschlechter-Mod­ell zu unter­schiedlichen Anforderun­gen an den männlichen und weib­lichen Kör­p­er und trug zur Ver­fes­ti­gung dieses Mod­ells bei.
Mit unser­er Tagung wollen wir den the­o­retisch-method­is­chen Anspruch ein­er rekur­siv­en und kri­tis­chen Wis­sens­geschichte von Medi­zin und Geschlecht disku­tieren. Fol­gende Fragekom­plexe wären denkbar:

1. Ein erster Fragekom­plex befasst sich mit unter­schiedlichen Geschlechterkonzepten, die medi­zinis­che Strö­mungen prägten und die sie zugle­ich selb­st her­vor­bracht­en. Welche ontol­o­gis­chen Grun­dan­nah­men lagen ihnen jew­eils zugrunde und inwieweit spiegelte sich deren Wan­del­barkeit in Diag­nos­tik, Ther­a­pie und Forschung? Und umgekehrt: In welchem Maße tru­gen medi­zinis­che Hand­lungslogiken zu ein­er (De)Stabilisierung der Geschlechterord­nung als Fun­da­ment der (bürg­er­lichen) Gesellschaft bei?

2. Ein zweit­er Fragekom­plex zielt auf den Ein­fluss von Wirtschaft, Reli­gion und Poli­tik auf geschlechtsspez­i­fis­che medi­zinis­che Prak­tiken. In welchem Maße ver­schwamm die Bedeu­tung von Krankheit und Gesund­heit hin­ter gesellschaft­spoli­tis­chen Inter­essen, zu denen auch Impe­ri­al­is­mus und Kolo­nial­is­mus zu zählen sind?

3. Drit­tens soll es um die Autonomie der Patient:innen über medi­zinis­che Ein­griffe in ihren Kör­p­er gehen. Welche wis­senschaftlichen, aber auch sozialen und kul­turellen Entwick­lun­gen lancierten iden­titäts­be­zo­gene Ver­schiebun­gen im medi­zinis­chen Han­deln? Wie sah das konkrete Rin­gen um Deu­tung­shoheit über den eige­nen Kör­p­er in ver­schiede­nen antag­o­nis­tis­chen Kon­stel­la­tio­nen aus? Wer waren die Akteure solch­er Kämpfe und wo fan­den sie statt?

Die Kon­feren­zsprache ist vor­wiegend Deutsch, es kön­nen aber auch Beiträge in Englis­ch­er Sprache ein­gere­icht werden.

Bitte senden Sie Ihr Abstract (max­i­mal 300 Wörter) und eine Kurzbi­ogra­phie (50–100 Wörter) bis spätestens 1. März 2024 an naima.tine@uni-greifswald.de. Eine Bah­n­reise 2. Klasse, Flu­greise nach Absprache und die Unter­bringung kön­nen bei Bedarf über­nom­men werden.
Programm

Keynote 2. Sep­tem­ber: Prof. Dr. Karen Nolte (Hei­del­berg)

Pan­els 3.–4. September

Kon­takt: naima.tine@uni-greifswald.de