Veranstaltung

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Natur machen: Wissen, Praktiken und Technologien der Umweltgestaltung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Datum
30. Juni – 01. Juli 2023 

Inter­diszi­plinär­er Work­shop am His­torischen Sem­i­nar der Uni­ver­sität Siegen


Die 1950er Jahre gel­ten als Zäsur der Umwelt­geschichte. Davon zeu­gen Schlag­worte wie jene des „1950er Syn­droms“ (Pfis­ter), der „Großen Beschle­u­ni­gung“ (McNeill/Engelke), aber auch des Anthro­pozäns, dessen Beginn bisweilen auf die Nachkriegszeit datiert wird. Die tief­greifend­en Umwälzun­gen gesellschaftlich­er Naturver­hält­nisse gin­gen indes ein­her mit einem weniger beachteten Wan­del des Stel­len­wertes „der Natur“ inner­halb indus­tri­al­isiert­er Gesellschaften. Auch wenn sich der Beginn dieser Entwick­lung auf ver­schiede­nen Feldern bere­its in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts aus­machen lässt, war Natur ab den 1950er Jahren flächen­deck­end nicht mehr etwas, von dem es sich zu emanzip­ieren galt, noch etwas zu Kon­servieren­des. Vielmehr rück­te das Her­stellen von Natur in den Fokus – Natur wurde auf eine jew­eils neue Weise prob­lema­tisiert, in poli­tis­che Ratio­nal­itäten inte­gri­ert und erhielt spez­i­fis­che Funktionen.

Exem­plar­isch dafür kann die Geschichte des Naturschutzes in bei­den deutschen Staat­en nach dem Zweit­en Weltkrieg betra­chtet wer­den. In der Bun­desre­pub­lik stand der soge­nan­nte „Glas­glocken­naturschutz“ in der Kri­tik, die planer­isch-gestal­ter­ische Lan­despflege set­zte sich als Mod­ernisierungsange­bot durch. Ganz ähn­lich galt in der DDR der kon­servierende Naturschutz als Relikt bürg­er­lich­er Naturäs­thetik und wurde in die Land­schaft­spflege – bald „sozial­is­tis­che Lan­deskul­tur“ – inte­gri­ert. Aus Naturschutzge­bi­eten wur­den „Frei­land­lab­o­ra­to­rien“, Wis­sensprak­tiken wie jene der Veg­e­ta­tion­skartierung ließen sich in ein anwen­dung­sori­en­tiertes Forschung­spro­gramm zur (Re-)Konstruktion von Ökosys­te­men umschreiben.

Die an diesem Prozess beteiligten Akteure begrün­de­ten die Notwendigkeit Natur herzustellen – ob großflächige Land­schaften oder klein­teiligeres Stadt­grün – oft­mals damit, dass sie etwa ökonomis­che, medi­zinis­che und ökol­o­gis­che Funk­tio­nen erfülle. Darunter fie­len mit jew­eili­gen Kon­junk­turen solche der Erhol­ung sowie gesund­heit­spoli­tis­che Auf­gaben im All­ge­meinen oder auch solche der Reg­u­la­tion von Umweltme­di­en sowie des Kli­maschutzes. Lassen sich manche dieser Vorstel­lun­gen bis um die Jahrhun­der­twende zurück­ver­fol­gen, wur­den sie nun ver­wis­senschaftlicht in umfängliche Pla­nung­sprozesse über­set­zt. Natur galt aus dieser Per­spek­tive als Mit­tel gegen jene neg­a­tiv­en Effek­te, die mit der „Großen Beschle­u­ni­gung“ ver­bun­den wur­den. Dafür bedurfte es jedoch nicht nur Natur-Wis­sen, son­dern eine anhand dieses Wis­sens gestal­tete Natur. Nicht sel­ten war dieser Zugriff auf die äußere Natur des Men­schen verknüpft mit Vorstel­lun­gen sein­er inneren Natur. Etwa dann, wenn eine dem Men­schen naturgemäße Umwelt gefordert wurde, da sie der gesellschaftlichen Reg­ulierung diene. Natur­poli­tik und ‑gestal­tung sind in diesem Sinne auch als Regierungs- und Sozial­tech­nolo­gien zu analysieren.

Natur machen beschreibt dieses het­ero­gene Ensem­ble. Im Zen­trum ste­hen Wis­sens­for­ma­tio­nen, Prak­tiken und Tech­nolo­gien wie etwa jene der Rena­turierung und ‑kul­tivierung, der Landschafts‑, Stadt- und Humanökolo­gie, der Inge­nieur­biolo­gie und Land­schaft­s­pla­nung, des Arten- und Biotop- sowie des Prozesss­chutzes. Deren Beginn fällt zwar bisweilen in die erste Hälfte des 20. Jahrhun­derts: Sys­tem­a­tis­che Forschung, umfängliche Anwen­dung und Insti­tu­tion­al­isierung erfuhren sie in der Regel jedoch erst ab den 1950er Jahren. Darin unter­schei­den sie sich von Ein­grif­f­en in den Land­schafts- und Naturhaushalt im All­ge­meinen sowie von länger eingeübten Prak­tiken, etwa der Melio­ra­tion. Es geht nicht um die „Eroberung der Natur“ (Black­bourn), son­dern um ihre bewusste (Re-)Konstruktion in Form arti­fizieller Natur-Rep­li­ka. Ein Beispiel dafür ist die seit den 1970er Jahren ver­stärkt auszu­machende Prax­is der Flussre­na­turierung, die auf eine jahrhun­dertealte Prax­is der Begr­a­di­gung reagierte. Ger­ade darin zeigt sich indes die Wider­sprüch­lichkeit des Natur Machens. Ein­er­seits lassen sich diese neuen Naturen nur als tech­no-sozio-nat­u­rale Assem­bla­gen denken, ander­er­seits erfüllen sie ihre Funk­tion als Sim­u­lakrum darüber, dass sie ihre sozio- und techno­genen Anteile ver­schleiern. Auch daher gin­gen Prozesse der Her­stel­lung häu­fig ein­her mit ontol­o­gis­chen und ethis­chen Debat­ten darüber, was Natur ist – und was sie in der indus­tri­al­isierten Gesellschaft sein soll.

Der Work­shop will sich diesem The­ma aus ver­schiede­nen Per­spek­tiv­en näh­ern und sucht nach Beiträ­gen aus den Geistes- und Sozial­wis­senschaften, die obige Gedanken aufnehmen. Sie kön­nen sowohl the­o­retisch als auch empirisch aus­gerichtet sein und sich auf die Geschichte des Natur Machens im gesamten 20. Jahrhun­dert beziehen. Neben his­torischen Fall­stu­di­en etwa der Rekul­tivierungs- und Rena­turierung­sprax­is – von dev­astierten Flächen des Tage­baus über Stadt­be­grü­nung bis zur (Wieder-)Herstellung von Ökosys­te­men – und ihrer Rezep­tion inter­essieren auch Analy­sen obiger Diszi­plinen und Prak­tiken. Aus the­o­retis­ch­er Per­spek­tive stellen sich etwa Fra­gen der Mate­ri­al­ität und hybri­den Ontolo­gien inner­halb der Prozesse des Natur Machens sowie auch nach der Anwend­barkeit von in jün­ger­er Zeit disku­tierten Konzepten wie jen­em der Öko-Gouvernementalität.

Vorschläge für einen Vor­trag (20 Minuten) im Umfang von ca. 300 Wörtern sowie ein kurz­er akademis­ch­er Werde­gang wer­den bis zum 31. Jan­u­ar 2023 erbeten per E‑Mail an: martina.huttner@uni-siegen.de

Vor­be­haltlich zur Ver­fü­gung ste­hen­der Mit­tel kön­nen Reise- und Über­nach­tungskosten über­nom­men werden.

Für Fra­gen ste­hen die Organ­isatoren des Work­shops zur Verfügung:

Prof. Dr. Noy­an Dinçkal, Europäis­che Wis­sens- und Kom­mu­nika­tion­s­geschichte der Mod­erne, Uni­ver­sität Siegen (dinckal@geschichte.uni-siegen.de)

Dr. Philipp Kröger, Geschichte der Gegen­wart, Uni­ver­sität Siegen (philipp.kroeger@uni-siegen.de)